Wolfgang Ammer, News, 2004, Tuschfeder, laviert, Deckweiß auf Papier © Landessammlungen NÖ
Wolfgang Ammer, News, 2004, Tuschfeder, laviert, Deckweiß auf Papier © Landessammlungen NÖ

Geschichtes Gedicht Augmented

von pflege

Alexandra Schantl und Christoph Fuchs

Mit der Auftragsarbeit Geschichtes Gedicht Augmented öffnen die Landessammlungen Niederösterreich ihre Kunstsammlung für eine neue Dimension des Kunstschaffens: Der junge Medienkünstler Bobby Rajesh Malhotra schuf mit dieser Augmented Reality-Applikation eine virtuelle, interaktiv erlebbare Erweiterung des im Jahr 2000 entstandenen Kunstwerks Geschichtes Gedicht von Heinz Cibulka und Hanno Millesi, einer vierteiligen digitalen Bildcollage zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 Die Applikation (App), die auf Smartphones oder Tablets zu installieren ist, wurde in enger Zusammenarbeit und im Dialog der Landessammlungen mit den Künstlern entwickelt. Sie stellt einerseits via Bild und Ton weiterführende Informationen zu den einzelnen Bildelementen bereit und thematisiert andererseits das spannende Feld der Computer Vision mit Hilfe künstlicher Intelligenzen, also den Blick der Maschinen auf unsere Wirklichkeit und jene der Kunst.

Die App steht weltweit kostenlos zur Verfügung und kann in den entsprechenden App Stores heruntergeladen werden. Scannen Sie dazu den QR-Code und laden Sie die Anwendung. Nach der Installation der App richten Sie die Kamera Ihres Geräts auf eines der vier Bilder.

Bildcollage zur Anwendung der Augmented Reality

 

Geschichtes Gedicht Augmented, Immerjetzt, 2000/2019

Heinz Cibulka, Hanno Millesi, Bobby Rajesh Malhotra
Geschichtes Gedicht Augmented, Immerjetzt, 2000/2019
digitale Collage, Augmented Reality Erweiterung

 

History Augmented

Hanno Millesi und Bobby Rajesh Malhotra

Im Jahr 2000 beauftragte Wolfgang Denk, damals Leiter der Kunsthalle Krems, Heinz Cibulka und mich, für die von ihm organisierte Ausstellung Milch vom ultrablauen Strom. Strategien österreichischer Künstler 1960–2000 eine Art Panoptikum zu entwerfen: Es sollte möglichst viele jener kulturellen Leistungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (bis in die 1960er-Jahre) versammeln, die als maßgebliche Beiträge zu Österreichs Kultur angesehen werden.

Die zu dieser Thematik entstandenen vier Bildtafeln funktionierten in der Schau als eine Art Vorspann der Präsentation diverser Konzepte zeitgenössischer Künstler(innen) des Landes. Meine Aufgabe bestand darin, Sujets auszuwählen, aus denen Heinz Cibulka vier digitale Collagen erstellte, sowie je einen programmatischen Text zu den von uns gewählten Kapiteln „Körper“, „Material“, „Wissenschaft“ und „Mystik“ zu verfassen.

Anlässlich einer neuerlichen Präsentation dieser Arbeit, Geschichtes Gedicht, im Rahmen einer Werkschau Heinz Cibulkas in der Landesgalerie Niederösterreich sind Alexandra Schantl und Christoph Fuchs nun auf die bemerkenswerte Idee gekommen, ihr einen nicht bloß zeitgenössischen, sondern geradezu zukunftsweisenden Anstrich zu verpassen. Entworfen hat ihn der Medienkünstler Bobby Rajesh Malhotra. Die Formel, deren er sich dabei bediente, stammt aus dem Pool der sogenannten Augmented Reality und offenbart einen neuen Zugang in die Struktur dieses Werks, bis hin zu einzelnen Elementen, aus denen es sich zusammensetzt. Anders ausgedrückt lassen sich spezifische Facetten nunmehr herausholen und gesondert von ihrem gestalterischen Kontext innerhalb der Collage betrachten. Mir, das heißt einem grafischen Stellvertreter meiner Person, ist es möglich, innerhalb der Rezeption dieser Bilder, während sie betrachtet werden, aufzutreten und etwas zu den einzelnen Sujets, aus denen sie gebaut wurden, zu sagen. Kaum eine künstlerische Arbeit eignet sich dafür besser als diese, hat sie doch ein geradezu enzyklopädisches Gerüst.

Als Zweig der künstlichen Intelligenz ist eine Dimension wie jene der Augmented Reality in der Kunstwelt noch verhältnismäßig neu und bislang eher als Teil des ästhetischen Konzepts mancher Werke anzutreffen. Als Erweiterung der Betrachtung eines Werks, das ohne einen Gedanken daran konzipiert und geschaffen wurde und – noch dazu – selbst mit Bildern von Kunstwerken operiert, die einem ganz anderen Zeitalter entstammen, klingt sie nach einem gewagten Unterfangen.

In der Folge erwies sich die Bereicherung unserer Collage um ein solches Interface jedoch nicht als bloße Modernisierung, sondern als kreative Neuinterpretation, als Transformation in einen anderen Zustand, in deren Verlauf – beinahe als handle es sich dabei um ein Nebenprodukt – auch die eine oder andere nützliche Information abfiel. Mir kam das vor, als sähe sich jemand, dem es ursprünglich nur um einen Blick von oben gegangen ist, mit einem Mal vor der Möglichkeit, zu fliegen: Fragt sich natürlich, wohin.

Wir alle, die wir an der Verwandlung dieses Werks in ein Vehikel digitaler Wirklichkeit beteiligt waren, sind uns der Gratwanderung bewusst, die damit einhergeht. Das gilt allerdings in gewissem Sinn bereits für die im Jahr 2000 entstandene Collage, die Leistungen verschiedener Künstler(innen) und Wissenschaftler(innen) in Form einer spezifischen visuellen Aufbereitung ihrer Eigenständigkeit beraubt und in den Kontext einer Arbeit mit ihren eigenen ästhetischen Kriterien zwingt.

 Bald wurde klar, dass sich eine künstliche Intelligenz nur bedingt für kulturelle Höhepunkte einer bestimmten Epoche in einem Land interessiert, versinnbildlicht sie doch selbst eine Leistung universellen Ausmaßes. Sie verinnerlicht – soweit man bei ihr von einem Inneren sprechen kann – Formensprache, Linienführung, Farbempfinden und führt uns vor, wie ein Blick auf die Welt durch eine Brille, geschärft von der Essenz all dessen, was durch sie betrachtet wird, ausfallen würde.

An dieser Stelle möchte ich meinen Kollegen, den Medienkünstler Bobby Rajesh Malhotra, bitten, mir mit ein paar Hinweisen auszuhelfen, wozu eine künstliche Intelligenz, mit einer solchen Aufgabe betraut, imstande ist.

Geschichtes Gedicht Augmented (Neural Network Image Synthesis Algorithms & Reinterpretations)

 Bei meinen Recherchen zu den Möglichkeiten, einen interessanten künstlerischen Diskurs mit den Mitteln der Augmented Reality zu inszenieren, stellte sich rasch heraus, dass Machine-Learning – also neuronale Algorithmen, basierend auf künstlerischen Stilen – eine neuartige Methode darstellt, Gegenwartskunst digital zu analysieren und mittels Code seltsam vertraute, aber auch abstrakte oder gar surreale Neuinterpretationen der ursprünglichen Bildcollagen zu generieren.

 Die einzelnen Collage-Elemente werden hierfür isoliert und als Trainingseinheiten dem neuronalen Netzwerk (TensorFlow) übermittelt. In einer weiteren Trainingsepoche werden Heinz Cibulkas Bildcollagen in ihrer Gesamtheit übertragen. Die Frage, die hier aufgeworfen wird: Welche Stilelemente der auf diesen Collagen mit ihren Arbeiten versammelten Künstlerinnen und Künstler kann die Computer-Vision isolieren, analysieren und kontextsensitiv wieder stilistisch in die jeweiligen Collagen transferieren (eine künstlerische Methodik, derer sich Heinz Cibulka und Hanno Millesi rein menschlich-intuitiv bei der Erschaffung der Original-Bildcollagen schon bedient haben, auf visueller wie auf literarischer und kunsthistorischer Ebene)? Die interessantesten Ergebnisse aus den Trainingseinheiten werden für die frei begehbare Augmented-Reality-Installation als lebensgroße und interaktive 3-D- beziehungsweise 2-D-Komposition im Realraum positioniert, animiert und nach den Spielregeln einer interaktiven AR-App audiovisuell in Echtzeit inszeniert – „Realraum“ bezieht sich in diesem Zusammenhang sowohl auf die Ausstellungsfläche als auch auf die Bildcollagen von Geschichtes Gedicht.

 Der Fokus liegt stets auf den ursprünglichen Kunstwerken, einerseits im Sinn des Mediums selbst (Screen), andererseits auf einer metaphorischen und analytischen Ebene: Das Auge der Betrachter(innen) wird zur Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, Interaktionsmöglichkeiten generieren neuartige dreidimensionale und frei erforschbare virtuelle Raumcollagen der maschinellen Neuinterpretationen. Virtuelle Diplomaten, dargestellt als Photogrammetrie-Abbildungen und 3-D-Avatar-Fragmente von Heinz Cibulka und Hanno Millesi, moderieren behutsam die zugrunde liegende Erzählung rund um Geschichtes Gedicht – Diplomaten deshalb, weil beide non-player characters (NPCs) in meiner Vorstellung Teil eines narrativen Feedback-Loops sind (Mensch, Maschine – Maschine, Mensch).

 

 

Weiterführende Links:

online Version der ursprünglichen Arbeit Geschichtes Gedicht aus dem Jahr 2000
[http://alien.mur.at/cibulka/]

 

Die Künstler:
Bobby Rajesh Malhotra [http://bobbyrajeshmalhotra.tumblr.com/]
Heinz Cibulka [http://www.h-cibulka.com/]
Hanno Millesi [https://www.hanno-millesi.com/]

 

Mehr zu künstlicher Intelligenz:
„A.I. Experiments: Visualizing High-Dimensional Space“, Video (Englisch)
[https://www.youtube.com/watch?v=wvsE8jm1GzE]

 

Zurück

Pfeil rauf